Macht zu wenig (guter) Sex uns hässlich, krank und dumm?
Eine Streitschrift für die Befreieung unserer Sexualität – von Volker Schmidt – erscheint 8. April 2019
Mit dem lockeren Titel „untervögelt“ erscheint Anfang April 2019 das erste Buch des Therapeuten Volker Schmidt im Verlag Fischer & Gann (Kamphausen Media).
Dankenswerterweise wurde uns schon vorab ein Exemplar des Buches zur Verfügung gestellt … deswegen nun hier die erste Beschreibung dieses Werkes.
Sein Buch „untervögelt“ kommt als leicht zu lesendes Softcoverbuch mit 192 Seiten daher. Der das Titelbild füllende Kiwi begleitet den spritzig formulierten Text durch alle Kapitel – eine nette Idee.
Über den Autor Volker Schmidt:
Volker Schmidt versteht sich als Therapeut, Berater und Mentor im Bereich Liebe, Partnerschaft und Sexualität. Daneben bzw. davor ist und war er Diplom-Umweltwissenschaftler, Heilpraktiker für Psychotherapie und seit 2008 Coach, Trainer und Mentor im Bereich Führung, Verhandlung und Kommunikation in Oldenburg. Ein vielseitig ausgebildeter und tätiger Mann also, der von sich sagt: „Die Zeit der Erfolgsgurus und Heilsversprecher ist vorbei. Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut.“ Das macht ihn in meinen Augen zusätzlich sympathisch.
Rezension „Untervögelt“ von Volker Schmidt
Das Buch stellt sich vor als „Einladung zur gemeinsamen Erschaffung einer positiven und bejahenden Sexualkultur in unserem Land. Und vielleicht darüber hinaus.“ Dies Versprechen hält Schmidt ein. Oft auf statistischem und biologischem Wissen basierend, entwickelt er im Lauf der 190 Seiten eine begründete Anregung zu einer offeneren, freieren und befriedigenderen Sexualkultur, zu deren Umsetzung er fundierte Tipps gibt.
Seine lockere Sprache trägt auch über trockenere Passagen. Sein Ansatz ist unterstützend, er fördert freiheitliche und liebevolle verantwortliche Miteinander, in Beziehungen und auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen… denn es wäre doch wundervoll, wenn wir auf einem Planeten sexuell erfüllter Menschen leben würden…
Macht zu wenig (guter) Sex uns hässlich, krank und dumm?
Zunächst zeigt Volker Schmidt in „Untervögelt“ dem Leser das Reich der Fakten. Das erste Kapitel liest sich kurzweilig, und auch ein Sex-Profi wie ich 😉 lernt noch eine Menge hinzu, zb über das Liebesleben des (schneckenfressenden) geringelten Leopardenschlegel, darüber dass es schwule Taufliegen gibt und dass die Mitochondrien seit Urzeiten immer in der mütterlichen Linie weitergegeben werden. Schmidt beschreibt in aller Ausführlichkeit, wie es sich um das Sexleben auf unserem Planeten verhält und lässt dabei keinen(!) Bereich aus, selbst Schnecken, Wale und natürlich Bonobos werden vorgestellt. Der Ton ist locker und leicht verständlich.
Im nächsten Teil, dem anthropologischen, bezieht sich Schmidt sehr auf das Werk „Sex at Dawn“ (von Ryan und Jethá) , deren Buch ein gnadenloser und letztlich vernichtender Angriff auf die verbreitete Annahme ist, der Mensch wäre von Natur aus zur Monogamie veranlagt. Allerdings bleibt Schmidt offen: für ihn sind jegliche Konstellationen sexueller Beziehungen unter Erwachsenen in Ordnung, solange sie die Bedürfnisse der Beteiligten berücksichtigen. Diese Bedürfnisse zu klären, zu hinterfragen und die Selbsterforschung anzuregen ist das Ziel der nächsten Kapitel. Er weist nach, dass der Mensch ein zutiefst sexuelles Wesen ist, das biologisch und sozial auf ein reges Sexualleben eingerichtet ist.
An manchen Stellen fand ich es ermüdend, dass er sich so im Allgemeinen und Seichten tummelt, andere Bücher und Erkenntnisse zitiert und sich dem Thema in großen Spiralen nähert.
OK, manches Wissenswertes findet sich aber auch hier: „Menschen mit einem aktiven und glücklichen Sexualleben bekommen statistisch signifikant seltener einen Herzinfarkt oder Schlaganfall.“ Dass nach einem Orgasmus die Aktivität der körpereigenen Imunabwehr stark erhöht ist und deshalb guter Sex zu Beginn einer Erkrankung oftmals zu einer spürbaren Verbesserung der Symptome führt, bleibt mir haften.
Das Buch vermittelt also doch auch alltagstaugliches Wissen 🙂 )
So ganz nebenbei kommen dabei durchaus mutige Kommentare zur geltenden Sexualmoral… zb „Möglicherweise sagt also die gegebenenfalls vorhandene Sprödigkeit des eigenen Beziehungspartners weniger über dessen sexuelle Energie aus als darüber, in was für einer Art von Beziehung er oder sie sich gerade befindet; und wie es ihm oder ihr damit geht.“ und „»Dauerhaft zu wenig oder nur schlechter Sex macht hässlich, krank und dumm.«
Verantwortungsvoller Sex
Immer wieder lenkt er den Blick aus dem Bett ins Gesellschaftliche:
„Möglicherweise ist das Ausleben einer lustvollen Sexualität also nicht nur ein netter, kleiner Booster für Physis und Psyche. Möglicherweise ist Sex bedeutend mehr als »die schönste Nebensache der Welt«. Möglicherweise ist das Nicht-Erleben sexueller Freuden risikomedizinisch ähnlich einzustufen wie der maßverlorene Umgang mit Alkohol oder Nikotin. Möglicherweise ist darüber hinaus zu wenig und zu schlechter Sex nicht selten eine treibende Kraft hinter vielen Formen selbst und/oder sozialschädigenden Verhaltens. „
Nachdem Vorzüge und positive körperliche Folgen von Sex beschrieben sind, erweitert Schmidt den Blickwinkel auf soziale Folgen und Folgerungen. Dabei schält sich heraus, dass er verantwortungsvollen Sex in dauerhaften Beziehungen präferiert – auch wenn er Monogamie für unnatürlich hält. Aber Radfahren oder Tango seien ja auch unnatürlich – eine einleuchtende Herleitung des alltagstauglichen Umgangs mit unseren biologischen Anlagen, denn „Es braucht im Falle der sexuellen Exklusivität schlicht kluge und kooperative Ausgleichsstrategien und Beziehungspartner*innen, die bereit sind, den Verlust an potenzieller Erfahrungsvielfalt im Rahmen einer exklusiven Sexualbindung durch beiderseitiges Zutun aufzufangen.“
Ein intelligenter Ansatz, um mit der
Erkenntnis, dass es einen naturgegebenen Hang zum nicht-monogamen
Verhalten gibt… den er jedoch kritisch hinterfragt, denn mit
Statistiken belegt er ebenfalls, dass die meisten sexuellen
Nebenbeschäftigungen aufgrund der mangelnden Qualität des
häuslichen Sex entstehen.
Der Ausflug in die Statistik über das
Sexualleben der Deutschen ist lustig, für mich manchmal etwas
ermüdend zahlenlastig, zeigt aber vor allem: keiner von uns ist
allein mit seinen scheinbar so privaten Intimproblemen. Eigentlich
gibt es keinen Grund, uns für irgendwas zu schämen, und der
Unterschied zwischen Mann und Frau ist vor allem ein kulturell
bedingter.
Schmidt bezieht auch immer wieder den Zusammenhang von erfülltem/erfüllendem Sexleben und politischer Orientierung ein. Und führt dann in einem eleganten Bogen über das Feld der Sprachlichen Ausdrücke zum Sprechen über Sex und über die unterschiedlichen Vorstellungen, die oftmals aus Unkenntnis und mangelnder Kommunikation entstanden sind.
„Ebenso wie unsere gestaltende Kraft in der Welt könnte auch unsere sexuelle Kraft all unsere Lebendigkeit aus dem Innersten heraus erbeben lassen. Doch wir lassen die eine wie die andere Kraft versiegen, überlassen unser Land wie unsere Schlafzimmer dem Mittelmaß, dem Minimalkonsens und einem giftigen Brei aus Groll auf das Leben, die Welt und uns selbst.“
Volker Schmidt – Buch: „Untervögelt“
Was für ein geiles Zitat zur Weltsicht des Autors, der fordert, es sei Zeit für eine neue Sexualmoral.
Schmidt beschreibt nicht nur fundiert, „dass Sex nicht einfach nur das ist, was man macht, wenn Netflix gerade nichts zu bieten hat“, sondern bietet Material und Anstöße, um in verschiedensten Anlässen offen und frei über Sexualität sprechen zu können. Dabei geht es aber (trotz der Statistiken) nicht um „Fakten,Fakten,Fakten“ 😉 , sondern im Grunde auch um das Herz, die eigenen Empfindungen und Wünsche.
Und er wird damit konkreter und ganz praktisch: der zweite Hauptteil des Buches dreht sich um die Kernfrage: was genau ist eigentlich »guter« Sex?
Was genau ist eigentlich »guter« Sex?
Dabei geht es ihm nicht um Stellungen oder Erregungsmethoden. Es geht um all das, was dahinter stattfindet, um wirklich erfüllenden Sex und diese Momente des Ja, um den „die Welt umarmende Zustand der glückseligen Allverbundenheit“.
Auch hier läßt Schmidt nichts im Ungefähren, sondern bringt die Begeisterung ins Tun:
„Unser schlechter Sex sagt nicht nur etwas über unseren Partner oder unsere Partnerin aus. Vor allem sagt es etwas über uns und unsere Entscheidungen im Leben.“
Volker Schmidt, Buch „untervögelt?“
Er nimmt den Leser an die Hand, damit dieser Antworten bekommt auf die Frage, was es braucht, „um aus »Sex« »richtig guten Sex« zu machen“. Und wieder, sonst würde ich dieses Buch nicht so ausführlich besprechen, bleibt Schmidt nicht auf der körperlichen oder banal-erotischen Ebene hängen, sondern führt zur Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen, Gefühlen und Impulsen.
Er beginnt mit den Themenkreisen „Freiheit und Selbstbestimmtheit“. Auch hier wird er konkret und nachvollziehbar, propagiert die „freie und eigene Entscheidung“ der Beteiligten.
Und wird dabei durchaus auch konkret, wenn er mahnt: „Wer nicht gut für sich selbst sorgt, versaut nicht nur seinen eigenen Sex, sondern auch den seines Partners oder seiner Partner.„
Und dann gibt es wirklich sinnvolle und handhabbare Anleitungen zur Verbesserung des Zustandes.
Praktische Übungen für besseren Sex
Die Übung dazu heißt hier „Wünsch’ dich frei“ und beschreibt was zu tun ist – und vor allem warum:
„… Wir zwei können keinen guten Sex miteinander haben, wenn ich ständig darauf bedacht bin, es dir irgendwie recht zu machen. Daran erstickt jede Lebendigkeit.
… Übe dich im Wünschen!
… Für sich genommen ist jeder Wunsch, den wir verspüren, nicht weniger und nicht mehr als eine Möglichkeit, miteinander Lust und Freude zu erleben. …
Übe dich, darin, deine Wünsche und Ideen in deine und eure Sexualität einzubringen. Jede deiner Sehnsüchte und Neugierden ist im Stande, den Raum eurer gemeinsamen Möglichkeiten zu vergrößern.
…Zur Unterscheidung: Ein Wunsch ist dann ein Wunsch, wenn du sowohl ein Ja als auch ein Nein als Antwort zulassen und annehmen kannst. Ansonsten ist es eine Erwartung oder Forderung.
…“
Mir gefällt die bodenständige und trotzdem weitreichende Art der Übungen, die Direktheit der Sprache, die immer freundlich, manchmal sogar poetisch und spielerisch bleibt. Und dass Schmidt emanzipiert: von alten Rollenbildern, Vorstellungen und Ängsten. Er regt wirkliche Befreiung an.
Weitere Bereiche der Selbst-Entwicklung sind „Aufrichtigkeit und Vertrauen“ sowie „Spiel- und Entdeckungsfreude“.
Über das natürliche Körper- und Selbstbewußtsein schreibt er auch angenehm entspannt, weit reflektierter und menschlicher als der Tschaka-Mainstream.
Die Differenzierung, die bei aller Flapsigkeit/Lockerheit der Texte entsteht tut gut. Dadurch werden Blickwinkel klar.
Schmidt richtet den Blick der Leser*innen aus Richtung Offenheit und Lebensfreude, und wirkt befreiend durch die vermittelten Fakten und Denkanstöße (und natürlich auch durch die Übungen!).
Das Buch ist eine Einladung, ja geradezu eine Aufforderung, uns einerseits „mutig und unverschämt zu öffnen für das, was unser Leben schöner macht“; und andererseits doch nicht im Privaten stecken zu bleiben. Es führt den Blick über den Rand des Bettes hinaus, auf gesellschaftliche Dimensionen: Schmidt belegt und dokumentiert es: „Sex stärkt unsere Sozialkompetenz. Wir werden umgänglicher, kooperativer, mitfühlender mit anderen Menschen.
Welche Auswirkungen hätte es auf unser aller Leben, wenn wir »Ja!« sagen würden zu unserer Sexualität?„
Nach draußen gehen
Zur Entwicklung einer neuen Sexual- und Lebenskultur empfiehlt Schmidt die mutige Eroberung des öffentlichen Raumes. Sein Vorschlag:
„Wir können beginnen, über Sex zu sprechen.
… Ich glaube, dass unser Umgang mit unserer sexuellen Kraft und Lust massive Auswirkungen hat auf unser tägliches Miteinander und auch auf das, was wir unsere Kultur nennen.„
Diese Ausrichtung sehe ich, der ich seit den 1980er Jahren mit dem freier werdenden Bild auf Sexualität aufgewachsen bin (und selbst viel für mich selbst befreit habe) als sehr unterstützend und unterstützenswert. Eine der Auswirkungen dieser seit daher entstehenden Sexualkultur ist die Liebesschule 😉 … eine andere das Buch „Untervögelt“ von Volker Schmidt.
Ich finde es lesenswert.
ISBN: 9783903072787
€ 15,00 [D] inkl. Mwst.
Softcover
PS:
Ich finde immer wieder zitierenswerte Preziosen in diesem Buch.
„Guter Sex ist ein Spiel, ein Tanz oder eine Reise. Sein erster und oberster Zweck ist die Mehrung des gemeinsamen Glücks. Darüber hinaus kann guter Sex dazu führen, dass wir miteinander Erfahrungen machen, die alte Wunden oder Ängste heilen.“
„Ein gesundes Selbstbewusstsein bedeutet, uns selbst von ganzem Herzen die Erlaubnis zu geben, ein echter Leckerbissen im Bett zu sein. Und uns an diesem Zustand mit ebenso ganzem Herzen zu erfreuen.„
„…Wie gut dein Sex ist, hängt nicht davon ab, wie teuer deine Dessous sind, welche akrobatischen Leistungen du vollbringst oder wie ebenmäßig dein Körper geformt ist.
Es hängt davon ab, wie sehr du und dein/e Partner*in bereit seid, euch ganz in diesen Augenblick und in diese Erfahrung hineinzugeben, von ganzem Herzen zu schenken, mit allen Sinnen zu empfangen und nichts zurückhalten, was deine Freude und Lust oder die Freude und Lust deines Spiel- oder Liebespartners zu mehren in der Lage wäre.„