Tantra im Alltag

Ein Interessent fragte letzthin, auf welche genaue Textstelle in der tantrischen Literatur sich denn das Workshopangebot „Tantrische Brusterkundung für Mann und Frau“ bezieht. Zuerst einmal fand ich die Frage blöd, dann interessant und dann brachte sie mich zum Nachdenken über Tantra und das Weltbild des Fragenden.

Die Grundfrage darin ist, inwieweit Tantra heute eine lebendige Kultur und Denkweise, vielleicht sogar Philosophie ist – und wie weit sich das, was wir heute für Tantra halten oder dafür ausgeben, tatsächlich auf jahrtausendealte Schriften stützt, stützen kann oder vielleicht auch gar nicht stützen will.
Der Begriff Tantra ist heute vor allem durch Tantramassagen bekannt und insgesamt eine schillernde Bedeutungswolke, die mit verschiedensten Inhalten belegt ist vom Erkenntnisstreben bis hin zur Prostitution. Soweit ich informiert bin, gründet die Entstehung der tantrischen Philosophie in einer Gegenreaktion auf eine Gesellschaftsentwicklung, in der ein sich nur am „Schönen“ ausrichtendes, heute würde man sagen bürgerliches Leben mit Berufspriestern und einer strikten moralischen Bewertung von ‘gut’ und ‘böse’ entstanden war. Tantra wollte auch die „unreinen“, die „bösen“ und „dunklen“ Seiten des Lebens als Teil des Lebens und als Teil des Erkenntnisweges anerkannt wissen. Und gerade deswegen ist Sexualität auch ein Teil des tantrischen Lebens, aber nicht der ausschließliche.

Was ist Tantra

Tantra basiert auf der Vorstellung, dass sich bei der Entstehung der Welt die ursprünglich vereinigten Energien getrennt haben, z.B. entstehen Himmel und Erde als Gegenpole innerhalb der (gesamtheitlich ganzen) Welt, und so ist auch die Trennung der menschlichen von den göttlichen Wesen und die männlichen von den weiblichen zu verstehen. Alles das sind Gegenpole, die in ihrer Vereinigung das Ganze darstellen. Diesen ‚vereinigten’ Zustand suchen die Rituale zu erreichen, die Vereinigung von Erde und Kosmos/ Mann und Frau / Hell und Dunkel zu einem vollkommenen Ganzen. Es soll zusammengefügt werden, was ursprünglich vollkommen und eins war.
Tantra existierte bereits vor den sogenannten „Tantras“, also den schriftlichen Zeugnissen mit Anleitungen zu Ritualen und Verhaltensweisen und philosophischen Texten. Diese Texte sind sehr geheim und bewusst so gehalten, dass sie nur mit einem tiefen Verständnis der Lehre an sich überhaupt verständlich sind. Die Lehren reichen vermutlich zurück in eine über 5000 Jahre vor unserer Zeitrechnung existierende matriarchalische Welt. Und trotzdem Tantra spirituelle Aspekte hat (also Selbstsuche, Sinnsuche) und Hinduismus und Buddhismus beeinflusst bzw. durchzieht, ist es keine Religion.

Tantra ist eine Lebenshaltung, die Dich dazu auffordert, Alles was Dir begegnet anzunehmen und jede Situation als Lernmöglichkeit zu sehen. Es gilt in der tantrischen Philosophie also eine umfassende und annehmende Sichtweise auf die Welt und auf das, was Dir begegnet.
Der ganzheitliche Ansatz des tantrischen Lebens bezieht sich ganz bewusst auf alle Teilbereiche des Lebens, auf die alltäglichsten und die hochschwingendsten, auf ‘helle’ und ‘dunkle’: Tantra ruft dazu auf, immer möglichst alle körperlichen, seelischen und geistigen Aspekte anzusehen. Im besseren Falle kannst Du dann das Erkenntnispotential dieser Begegnung nicht nur sehen, sondern auch tatsächlich nutzen, um mehr über Dich und die Welt zu verstehen. Das Ziel ist die innerliche Vereinigung der gegensätzlichen Pole zum „Ganzen“. Wohlgemerkt geht es nicht um Ausgleich, sondern um bewusstes Erleben der Pole: der männliche und weibliche Aspekt dürfen in ihrer ganzen Schönheit da sein und gesehen werden.
Der praktische Aspekt ist wichtig im Tantra; nichts geschieht „von allein“, alles ist ein tun … und alles hat seinen Einfluss auf alles.
Das zeigt sich nicht nur darin, dass jeder Aspekt wichtig genommen wird und als Quelle der Erkenntnis dienen kann. Sondern auch darin, dass es konsequenterweise kein sozusagen „moralisches“ Gut und Böse gibt. Sowohl das Helle wie das Dunkle gehören zum Gesamten; die grausigen Dämonen der Kali sind genauso Teil der Welt wie die schönen sanften Liebestöne. Alles ist Erfahrung, und jede Erfahrung ist ein wertvoller Teil der Welt, weil durch jede Erfahrung erfährt sich das Göttliche in der Welt, also in sich selbst und kann sich so erkennen und … spielen.

Tantra und Alltag

Tantra verlangt also Bewusstsein des So-Seins, ein „im Moment sein“. Wenn wir ohne vorgeprägte wertende Meinung sind, können wir mit klarem Blick die Besonderheit des Augenblicks erfahren:
Das ganze Leben ist Meditation, Sein im Augenblick.

Im Alltag verliert sich die Aufmerksamkeit öfters bei sich wiederholenden Handlungen, bei Zeitdruck oder anderem inneren Drücken. Dann steht oft der Geist an einer Stelle aktiv im Raum, an der er zwar ordnet, aber die Welterkenntnis behindert.
Bei Workshopveranstaltungen der Liebesschule setzen wir dem „Alltag“ oft das „Ritual“ entgegen. Durch einen klaren Ritualcharakter erhöht sich die Aufmerksamkeit und die Wachheit der Beteiligten meist. Ein Ritual setzt immer einen Rahmen, der das Geschehen während der (rituellen) Begegnung vom Alltag abhebt und es schützt.
Zu Beginn steht deshalb, auch bei an sich schon ungewöhnlichen Workshops (wie Genitalmeditation oder Brustmassage) das bewusste Einladen der Achtung und der gegenseitigen bedingungslose Annahme. Hier setze ich gerne neotantrische Elemente ein, wie beispielsweise das „Namaste“. Diese bewusste Kenntnisnahme des eigenen Körpers, der eigenen Seele und der Präsenz des Gegenüber hilft dem Geist, das Göttliche im Anderen zu sehen. Durch die erhöhte Aufmerksamkeit entsteht Tiefe in der Begegnung.
Manch einer traut sich selbst auch mehr zu zeigen, wenn es in diesem geschützten Rahmen erfolgen darf. Ein Rahmen, der endlich ist. Deswegen ist mir immer auch der „geordnete“ Abschluss des Rituals wichtig: eine rituelle Begegnung ist erst mit dem Abschluss des Rituals beendet; es bietet damit einen Raum, der eine tiefe offene und von alltäglichen Vorurteilen freie Begegnung ermöglicht.

In der jüngeren Zeit ist Tantra vor allem durch das von OSHO in den Westen gebrachte Neotantra bekannt geworden (also 70er – 90er). Dort wurde der ganzheitliche Aspekt der Welterfahrung zurückgestellt zugunsten eher therapeutischer und alternativ-hedonistischer Erlebnisse; eine starke Orientierung an Bewegung und die Betonung der Sexualität und auch die Einbeziehung ‚indischer’ Elemente, also Götterstatuen, Ornamentik etc. machte das Ganze zu einem Renner.
Die Tantramassage, die für viele heute der Inbegriff von Tantra ist, wurde in den 80er Jahren von Andro in Berlin erfunden und meint eine Ganzkörpermassage unter Einbeziehung der Genitalien und schließt auch einen bewussten Umgang mit sexuellen Energien ein. Je nach Setting ist eine Tantramassage Orgasmus-orientiert (und wird zum Teil auch von Prostituierten als Synonym für Sex verwendet) oder therapeutisch orientiert. Sie kann ein wunderbarer Weg zu mehr Selbstwahrnehmung und Selbstannahme und zur Entdeckung der eigenen Lust sein (was auch als Paar-Massage ein wunderbares Geschenk ist).
Auf alle Fälle hat diese Renaissance des Begriffes Tantra auch mit sich gebracht, dass offener über sexuelle Erfahrungen und auch den Umgang mit der uns alle durchfließenden Lebensenergie gesprochen werden kann.
Es wurden im Umfeld dieser seit den 60er Jahren entstehenden Körperarbeitsszene weitere, zum Teil sehr wirksame Massagen und energetische Heilungsmethoden entwickelt, zB TAO-Massage oder der Ansatz der Sexological Bodywork, wo es um praktische Methoden geht, mit sexuellen Störungen oder besser Gegebenheiten umzugehen. Es geht dabei jedoch nicht um das rein genital-orgasmische Erleben, sondern um die Einbettung des Sexuellen (wir sind alle sexuelle Wesen) in das individuelle Leben.

Dadurch hat sich ein bestimmter Rahmen gebildet, den ich als tantrisch bezeichne. Inhaltlich beziehe ich alle Lebensbereiche, auch die Sexualität, mit ein; rein praktisch achte ich bei den tantrischen Workshops auf eine ausgewogene Ansprache der drei „Schlüssel zur Orgasmischen Kraft“: Atmung, Bewegung und Stimme. Diese drei Bereiche als zentrale Wege zur Erkenntnis zu betrachten, ist nicht nur „neo-tantrisch“ begründet, sondern findet sich in vielen Bereichen der bewussten Körperarbeit, angefangen bei Wilhelm Reichs Lehre der Körperpanzer, über Bioenergetik bis hin zu ‘Somatic Experience’ und Ansätzen des Energetischen Heilens. Ein möglichst umfassendes Einbeziehen der Körperlichkeit ermöglicht auch eine intimere, nährende, seelisch verbindende Begegnung – sowohl im Seminar als auch im Alltag.
Diese Aufmerksamkeit für das eigene Sein kann in Seminaren immer nur angestoßen werden – letztlich praktizieren muss / kann / darf jede sie in ihrem Alltag. Wer immer nur auf Seminare hofft, um sich zu spüren und in wirkliche Begegnung zu gehen, wird davon abhängig und löst für sich zumindest diesen Aspekt seines Lebens nur unzureichend. Aufmerksame Atmung, gefühlvolle Bewegung und eine ansprechende starke Stimme sind von vielen Aspekten des eigenen Lebens abhängig. Letztlich kann auch jeder nur selbst herausfinden, ob und inwieweit ihm die Anstöße aus Seminaren in seinem Alltag nützlich sind, und wie weit z.B. regelmäßige Übungen wie Meditation ihn in seiner Bewusstheit weiterbringen. Dann ist Tantra natürlich Alltag, oder es ist nicht Tantra.

Es geht bei Tantra ja nicht um Perfektion, sondern um das Einbeziehen aller Lebensaspekte, auch denen des Scheiterns.


Über den Autor

Ramos beschäftigt sich seit seiner Jugend mit Spiritualität, mit Tantra kam er 1990 in Berlin in Berührung. 2012 startete er die “Liebesschule” (www.liebesschule.de), wo er in verschiedenen Seminaren Körperbewusstsein in tantrischer Weltsicht vermittelt. Er lädt dazu auch andere Herz-orientierte Lehrer ein.
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